Ist die Honigbiene ausserhalb der Imkerei in der Schweiz nicht gefährdet oder bereits ausgestorben? Ein Blick auf die Rote Liste der gefährdeten Bienenarten müsste ausreichen, das zu beantworten. Aber dem ist nicht so, denn die Eigenheiten und das Verhältnis der Honigbiene zum Menschen lässt noch keine Beurteilung wie für alle anderen Wildbienen zu. Offensichtlich ist sie in der Wildnis aus den Augen verloren gegangen und die Gefährdungsabschätzung tut sich schwer mit dieser vermeintlich domestizierten Tierart, die in der Imkerei massenhaft genutzt wird.
Vorkommen mit Risiken
Ob mehrheitlich verwildert oder vielleicht von früher übriggeblieben, all die in freier Wildbahn verbleibenden Honigbienenvölker stehen unter massivem Druck:
Wie andere Wildbienen, kämpfen sie mit dem Mangel an Nistplätzen und Futterpflanzen. Auch Schadstoffe und Insektizide sowie Krankheitserreger und Parasiten (wie die eingeschleppte Varroa-Milbe) belasten sie. Stirbt die wildlebende Honigbiene aus, geht ein wertvoller Genpool der heimischen Artenvielfalt und ein effizienter Bestäuber ‒ letztlich auch für die Honig- und Kulturpflanzenproduktion – für immer verloren.
Im Gegensatz zu den anderen 600 Wildbienenarten der Schweiz, scheint das Interesse jedoch gering zu sein, die Schutzwürdigkeit der einheimischen Honigbiene abzuklären und gesetzlich zu regeln.
Gefährdungsstatus aufgeschoben
Dieses Jahr soll die revidierte Rote Liste der gefährdeten Bienen in der Schweiz erscheinen. Doch wie schon vor 30 Jahren wird auch in der neuesten Ausgabe keine Einstufung der Gefährdung der wildlebenden Honigbiene gemacht. Ihr Status wird lediglich als „nicht beurteilt“ festgehalten. Immerhin wird sie als eine Wildbienenart anerkannt, da sie taxonomisch eindeutig und ursprünglich als Waldinsekt Teil der einheimischen Fauna angesehen wird. Jedoch gilt im Naturschutz: ohne eindeutigen Nachweis einer Gefährdung lassen sich in der Regel keine Artenschutzprojekte rechtfertigen. So zählt man vorläufig nur auf Massnahmen zur Verbesserung des Lebensraums, wovon ein breites Spektrum von Pflanzen und Tierarten, unabhängig von ihrem Gefährdungsstatus, profitieren kann.
Wildtier und Nutztier zugleich
Für die meisten Tierarten, die sauber in das vereinbarte Arten- und Unterarten-Schema passen, ist die Unterscheidung zwischen Gefährdung und Nichtgefährdung, einheimisch und nicht einheimisch, wild und domestiziert relativ leicht. Die Honigbiene jedoch fällt in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen.
Im früheren 20. Jahrhundert begann in der Schweiz die intensive Haltung der Honigbienen im agro-urbanen Raum. Innert weniger Jahrzehnte wurde das Waldtier zu einer hochleistungsfähigen Honigproduzentin erzogen, als Bestandteil der industriellen Lebensmittelproduktion. Somit leben die meisten Honigbienen in der Schweiz unter menschlicher Obhut. Doch es werden nach wie vor, wenn auch seltener, vereinzelt unbetreute Honigbienenvölker in der freien Natur gesichtet.
Wie schon vor Jahrmillionen nisten Honigbienen in Baum- und Felshöhlen. Wo solche fehlen, greifen sie auf ungenutzte Hohlräume in Mauern, Dächern, Kaminen und Masten zurück. Ob es sich bei diesen wild lebenden Bienen um verwilderte oder ursprünglich wilde, gar um eigenständig lebende Völker handelt, ist nicht leicht zu erkennen. Und genau hier liegt die Schwierigkeit.
Heute eine multikulturelle Biene
In der Schweiz lebten ursprünglich zwei Honigbienen-Unterarten: Auf der Alpennordseite die Apis mellifera und auf der Alpensüdseite die Apis ligustica. Seit den 1950-er Jahren setzen Imker im Zuge des Honigbooms immer mehr Unterarten wie die carnica sowie Zuchtrassen wie Buckfast aus anderen Gebieten Europas ein, die sich mit den angestammten mellifera und ligustica Bienen kreuzten. Diese neue genetische Mischung in der Schweizer Landschaft wird heute „Swissmix“ genannt.
Trotzdem gibt es noch reine mellifera-Bienenvölker – aber nur in einzelnen Gebieten, in denen die Haltung anderer Unterarten nicht erlaubt und die Paarung durch die Geländeverhältnisse relativ gut begrenzt unter Kontrolle ist. Das ist zum Beispiel im Mellifera-Schutzgebiet Glarnerland der Fall. In allen anderen Regionen der Schweiz ausserhalb von Zuchtzonen (u.a. auch Carnica-Schutzzonen um Zucht-Belegstellen auf der Alpennordseite) geht man davon aus, dass innerhalb und ausserhalb der Bienenstöcke die Honigbiene mehrheitlich in Kontakt mit dem Swissmix steht. Folglich argumentieren einige Wildbienenschützer, dass freilebende Honigbienen keine Wildbienen mehr sein können, weil sie sich längst mit den Swissmix-Bienen aus den Bienenkästen vermischt haben und somit als «Imkerbienen» gar keine Fördermassnahmen benötigen.
Auf den ersten Blick mag diese Schlussfolgerung plausibel erscheinen. Die Dichte der Honigbiene in der Schweiz ist mit über vier bewirtschafteten Völkern pro Quadratkilometer tatsächlich sehr hoch. Unter diesem Gesichtspunkt wäre die Honigbiene im Vergleich zu anderen Wildbienen reichlich vorhanden und somit nicht schutzbedürftig. Das basiert jedoch auf der ungeprüften Annahme, dass alle lebenden Honigbienen den gleichen Genpool, die gleichen Lebensbedingungen und die gleichen Überlebenschancen haben. Überdies darf man nicht vergessen, dass die Eigenständigkeit von wild lebenden Honigbienenvölkern, die der natürlichen Auslese ausgesetzt sind, selbst ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist.
Tatsächlich ist immer noch zu wenig über die freilebenden Bienen bekannt, um ihren wahren Ursprung und ihre wahre Evolution zurückverfolgen zu können. Eine wissenschaftlich fundierte Abklärung steht noch aus.
Schlüssel steckt möglicherweise nicht nur im Genom
Wer sich mit wildlebenden Honigbienen näher befasst, weiss, dass sie vielmehr selbstheilende Eigenschaften aktivieren kann als bewirtschaftete Honigbienen. In der freien Wildbahn können Honigbienenvölker auf ihre natürlichen Instinkte zum Überleben zurückgreifen, die ihnen durch das Leben im konventionellen Imkerkasten entzogen werden: zum Beispiel auf die freie Paarung über weite Distanzen hinweg, das periodische Schwärmen und das nomadische Besiedeln neuer Nistplätze. Dieses natürliche Verhalten im weitläufigen und sich situativ verändernden Verbreitungsgebiet ermöglichte es den Honigbienen, dem Klimawandel, Krankheiten und Parasiten über 30 Millionen Jahre zu trotzen.
Genetisch mögen sich Wildbienen mit bewirtschafteten Bienen mittlerweile vermischt haben – aber in ihrer Verhaltensweise stechen die urzeitlichen Züge der wildlebenden Bienen immer noch hervor. So folgert Sigurn Mittl (2022, Nachhaltig Imkern): «Die Forschung hat uns gelehrt, dass die Honigbienen gesünder sind, wenn sie so ungestört wie möglich leben können und ihre biologischen Mechanismen zur Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit so weit wie möglich auch in der Imkerpraxis berücksichtigt werden.»
Der Unterschied zur Imkerbiene hinsichtlich der Verhaltenszüge reicht aber noch nicht, um den Gefährdungsstatus von wild lebenden Honigbienenvölker abschätzen zu wollen. Es muss noch klar belegt werden, dass freilebende Honigbienen eigenständig und ohne Zufluss von gehaltenen Bienen überlebensfähig sind. Das Problem: In einem Land mit solch hoher Honigbienendichte wie der Schweiz ist es nicht leicht, beimkerte und freilebende Völker getrennt voneinander zu untersuchen, um die nötigen Nachweise zu produzieren.
Beurteilung ist aufwendig, aber erstrebenswert
Bis eine Gefährdungsabschätzung der Honigbiene erfolgen kann, muss noch viel Forschungs- und Abklärungsarbeit geleistet werden. Leider gibt es in der Bienenforschung immer noch zu wenig Ressourcen und Anreize, um die offenen Fragen zu klären. Die derzeitigen Forschungsschwerpunkte der Bienenspezialisten befassen sich entweder mit dem Schutz der übrigen Wildbienenarten oder mit der imkerlichen Bienenzucht und -behandlung. Aber solange sie als nicht beimkerte Wildbiene nicht anerkannt wird, bleibt die wild lebende Honigbiene in Imkerkreisen und in der Bevölkerung aussen vor.
Es besteht aber Hoffnung. Jenseits der Landesgrenze zeichnet sich langsam ein Umdenken ab. In Deutschland, Österreich, Frankreich, Spanien, Grossbritannien und den USA laufen derzeit Projekte, um freilebende Bienenvölker zu dokumentieren und wissenschaftlich zu untersuchen. Im Hinblick auf die Revidierung der europäischen Roten Liste der Bienen werden auch konkrete Schritte unternommen, um Vorkommen ausfindig zu machen und die Klassifizierung der wildlebenden Honigbiene zu ermöglichen. Denn bisher gibt die Weltnaturschutzorganisation IUCN der wildlebenden Honigbiene in Europa den Status «Ungenügende Datengrundlage» an. Daraus lässt sich wie im Schweizer Status «Nicht beurteilt» eine vergleichbare Aufforderung zur Verbesserung der Datenlage herauslesen. Denn bekanntlich kann man nur schützen, was man kennt.
Melden Sie freilebende Honigbienen
Eine Datengrundlage für die Schweiz schafft auch eine erstmalige Initiative mit grossem Potenzial: das FREETHEBEES Citizen Science Projekt «Swiss BeeMapping», das dank vielen aufmerksamen Bürgerinnen und Bürger wichtige Feldarbeit leistet.
Über 120 Nistplätze wurden seit 2021 von Projektteilnehmern registriert, die Spezialisten verifizieren und auswerten. Als freilebend bezeichnet das Projekt sämtliche verwilderte und langfristig wild lebende Honigbienenvölker, die weder betreut werden, noch einen Produktionszweck haben. Fundorte geben Aufschluss über Verbreitung und Lebensstrategien der freilebenden Honigbiene in Wald und Landschaft, inklusive Siedlungen. Sie weisen zudem auf Wissenslücken hin, die in Zukunft geschlossen werden müssen, darunter auch die hier diskutierten Regelungslücken im Naturschutzwesen. Das Projekt motiviert auch dazu, über taxonomische Grenzen hinauszublicken und sich über effektive Umsetzungen von ökologischen Aufwertungen von Lebensräumen zugunsten höhlenbewohnenden Tierarten auszutauschen.
Vorteile für alle
Um die Zukunft der Honigbiene zu sichern, braucht es ein gutes Einvernehmen unter Naturforschenden und Fachgruppen der Imkerei, bis über die Landesgrenze hinaus. Gesunde freilebende Bienenpopulationen, die unter natürlicher Selektion stehen und lokale Anpassungen entwickeln können, sind für Imker so wertvoll wie die Wildpflanzen für gezüchtete Kulturpflanzen. Das spricht für die Erhaltung der Wildbienenvielfalt.
Langfristig gesehen wäre es für alle Interessensgruppen sinnvoll, die freilebenden Bienenvölker zu berücksichtigen, zu erhalten und zu fördern, und dafür die benötigten praktischen und rechtlichen Anpassungen gemeinsam und einvernehmlich anzugehen.
Schliesslich verbindet alle Bienenliebhaber, Bienenhalter und Bienenschützer eine gemeinsame Verantwortung: die Zukunft aller Bienen und den Erhalt der heimischen Artenvielfalt zu sichern.
Lesen Sie den vollen Text von Francis Cordillot «Honigbiene: ausgestorben oder nicht gefährdet» im Bulletin Sommer 2022.