Artikel von André Wermelinger, Gründungspräsident und Geschäftsleiter FreeTheBees
Neu und modern ist nicht immer besser: Das kulturhistorische Handwerk des Zeidlers aus dem Mittelalter ermöglicht uns heute das Schlagen ökologisch wertvoller Baumhöhlen mit dem Ziel der Biodiversitätsförderung im Wald. Neben der freilebenden Honigbiene profitieren unzählige weitere Arten und Artengemeinschaften von den Baumhöhlenimitaten. Darüber hinaus stellt die früher an der Produktion von Honig und Wachs ausgerichtete Zeidlerei heute ein wegweisendes und innovatives Konzept für eine verantwortungsvolle, artgerechte und naturnahe Bienenhaltung dar.
Die Zeidlerei
Die Zeidler waren im Mittelalter die ersten gewerbsmässigen Produzenten von Honig und Wachs. Nichts anderes als unser heutiger Imker, nur mit einem höheren gesellschaftlichen Rang: Wachs war wertvoll für die Produktion von Kerzen, Honig der einzig verfügbare Süssstoff.
Zeidler beobachteten Bienenvölker in der Natur und versuchten, deren natürliche Lebensweise in der künstlich geschlagenen Baumhöhle optimal zu kopieren.
Nutzen der Zeidlerei in der heutigen Zeit
Die Zeidlerei ist die natürlichste aller möglichen Bienenhaltungsformen. Sie ist heute wichtiger denn je. Einerseits, weil sie das Bewusstsein der Imker für natürliche Abläufe schärft. Andererseits, weil Baumhöhlen in unserer Zeit rar geworden sind und neben der Biene auch unzähligen anderen Arten und Artengemeinschaften dient, die darüber hinaus teilweise symbiontisch mit der Honigbiene zusammenleben und die Bienengesundheit positiv beeinflussen.
Die Zeidlerhöhle bietet der Honigbiene relevante Vorteile gegenüber ihrer Haltung in konventionellen Bienenkästen:
- Sie ist sehr viel besser isoliert.
- Sie bietet eine Art Minergie-Passiv-Vollholz-Haus, in welchem die Bienen ein warmes und trockenes Habitat vorfinden.
- Die guten klimatischen Bedingungen verringern den Gesamtstoffwechselumsatz des Bienenvolkes drastisch. Das Bienenvolk muss fünf bis zehnmal weniger Nektar und Pollen sammeln, um den Winter überleben zu können.
- Bienenvölker im hohlen Baum sind kleiner als die uns aus dem Bienenkasten bekannten sogenannten Wirtschaftsvölker, was zu weniger Konkurrenz gegenüber den Wildbienenbeständen führt.
- Es stellt sich in einer Zeidlerhöhle ein keimfreies Klima im Brutnest ein, die sogenannte Nestduftwärmebindung: ein überaus schlagkräftiger Abwehrmechanismus der Natur gegen Bienenkrankheiten.
Gerade heute, in einer Zeit, in welcher die Imker ihre Bienenhaltungsmethodik in Bienenkästen als normal betrachten, gewinnt die Zeidlerei an Bedeutung. Der Imker kann erstmals wieder beobachten, wie seine Bienen im natürlichen Habitat eigentlich leben würden. Er kann Rückschlüsse auf seine aktuelle Imkertätigkeit ziehen und lernen, wie intensiv er eigentlich mit seinen Wirtschaftsvölkern umgeht und wie stark er deren Lebensweise zugunsten von Honigertrag beeinflusst.
Die Zeidlerei fördert das Bewusstsein für natürliche und beeinflusste Abläufe im Bienenstock.
Wiedereinführung und Verbreitung der Zeidlerei
Die Waldbienenzucht in lebenden Bäumen ist Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend aus Europa verschwunden. Glücklicherweise hat das kulturhistorische Handwerk im Shulgan Tash Nature Reserve im südlichen Ural in Russland überlebt. Es wurde unter den Baschkiren vom Mittelalter bis auf den heutigen Tag von Generation zu Generation, von Vater zu Sohn übergeben und aktiv weiterbetrieben.
Im Shulgan Tash im Ural wurden Dr. Hartmut Jungius und Dr. Przemysław Nawrocki (beide heute im Wissenschaftlichen Beirat von FreeTheBees) vom WWF im Rahmen eines vom Schweizerischen DEZA (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) finanzierten WWF Projektes mit der kulturhistorischen Zeidlerei vertraut und beschlossen, dieses traditionelle Handwerk nach Polen zurückzubringen.
Aus diesem Vorhaben entstanden über 150 Zeidlerhöhlen in lebenden Bäumen und weit mehr Klotzbeuten. Viele davon in polnischen Nationalpärken.
FreeTheBees hat in 2014 die Zeidlerei dann auch in die Schweiz zurückgeführt. Mit einem international besuchten Zeidlerkurs wurden die ersten Zeidlerbäume in Kriens LU geschlagen und angehende Zeidlermeister geschult. Seither konnten unzählige Kurse nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland, Belgien und England organisiert und durchgeführt werden. Mitunter auch dank der aktiven Unterstützung von Dr. Frank Krumm, einem renommierten Waldforscher, der ebenfalls im Wissenschaftlichen Beirat von FreeTheBees einsitzt.
Die Zeidlerbewegung wird schnell grösser und fasziniert nachhaltig und bewusst denkende Imker weit über Europa hinaus, bis nach Kalifornien!
Verwendung der kulturhistorischen Zeidlerei für den Naturschutz: das FreeTheBees Baumhöhlenprojekt
Dank langjähriger Erfahrung und vieler älterer und teilweise neuerer Erkenntnissen aus der Forschung, sind wir heute in der Lage, Baumhöhlen zu Biodiversitätszwecken zu schlagen.
Baumhöhlen sind rar gewordene und wichtige ökologische Elemente. Neben Honigbienenvölkern profitieren unzählige Tierarten und Artengemeinschaften von diesem wertvollen Habitat.
Das Baumhöhlenprojekt von FreeTheBees hat sich zum Ziel gesetzt, 335 Baumhöhlen in nur 3 Jahren zu schlagen. Demnächst sind wir bei einem Drittel konkret umgesetzter Baumhöhlen angelangt.
Das Schlagen der Baumhöhlen erfolgt weiterhin auf der Basis des urtümlichen Kulturhandwerks. Da wir an der Biodiversität und nicht an der Bienenhaltung orientiert sind, passen wir einige Ausprägungen der ursprünglichen Zeidlerhöhle an. So beispielsweise das Flugloch, welches dem Spechtloch angenähert wird, und die Nutzung der Baumhöhlen nicht nur den Bienen vorbehält, sondern allen baumhöhlenbewohnenden Arten erlaubt. Ebenso glätten wir die Innenwände der Baumhöhle nicht so feinsäuberlich wie damals die Zeidler, sondern ahmen die natürliche, strukturierte und raue Oberfläche der natürlichen Baumhöhle nach.
Nutzen und Ausblick der geschaffenen Baumhöhlen
Insgesamt schaffen wir mit den Baumhöhlen nicht nur überaus wichtige Habitate für baumhöhlenbewohnende Tierarten und Artengemeinschaften, sondern auch eine einmalige und bisher inexistenten Infrastruktur für zukünftige wissenschaftliche Forschungsprojekte.
Bezogen auf die Honigbiene sind die Baumhöhlen ein Schlüsselelement, um die noch immer in ganz geringen Stückzahlen vorkommenden freilebenden Bienenvölker der Schweiz schützen und fördern zu können.
Der Schutz und die Förderung von freilebenden Honigbienenvölkern ist von zentraler Bedeutung:
- Nur freilebende Honigbienenvölker, welche der harten natürlichen Selektion unterstellt sind, können sich an ihre Umgebung und an zukünftige Umweltveränderungen anpassen.
- Imkereibedingungen mit Honigbienen in nicht artgerechten Habitaten, ertragssteigernden Eingriffen, Zuckerfütterung, Säurebehandlungen, erlauben keine Anpassungsfähigkeit, was gerade in Zeiten schneller klimatischer Veränderungen eine Schere öffnet und die Bienen je länger je abhängiger vom Imker machen.
Aus wissenschaftlicher Perspektive wissen wir heute nur begrenzt viel über Baumhöhlen und deren Bewohner. Es gibt unzählige Fragen, beispielsweise die Nutzung der Baumhöhlen über die Zeit und die unterschiedlichen Zusammenhänge zwischen Arten und Artengemeinschaften.
Nur schon ein Bienenvolk im hohlen Baum scheint mit mindestens 30 anderen Insektenarten, 170 Milbenarten und 8’000 Mikroorganismen zusammenzuleben, über deren Zusammenhänge bis heute nur sehr wenig bekannt ist. Und dass, obwohl unser aktuelles Wissen mit gutem Gewissen vermuten lässt, dass diese Zusammenhänge relevant sind für die Bienengesundheit. Zukünftige Forschungsarbeiten werden mit grösster Wahrscheinlichkeit unzählige Verknüpfungen zwischen der Honigbiene und der mit ihrer interagierenden Biodiversität im faszinierenden und komplexen Ökosystem Wald aufzeigen.
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Mehr Wissenswertes zur Zeidlerei.
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