Die Biene vermehrt in Ruhe lassen
BIENENHALTUNG. Die Biene ist nicht in erster Linie wegen der Erreger krank, die ihr zusetzen. Sondern weil der Mensch durch immer mehr Stressfaktoren die Lebenskraft der Biene geschwächt hat. Der pensionierte Lehrer und passionierte Imker Josef Studerus glaubt deshalb, dass wir den Bienen am besten helfen, wenn wir den Produktionsdruck vermindern, Stress abbauen und mehr und vielfältigere Nahrungspflanzen anbieten.
Josef Studerus | Wieso räumt ein gesundes, starkes Bienenvolk seine von Sauerbrut befallenen Zellen nicht aus? Vor hundert Jahren war es dazu vielleicht noch in der Lage. Seine Umwelt war noch nicht belastet von Pflanzenarmut, Überdüngung, Insektiziden, Medikamenten und anderen menschlichen Eingriffen. Es entsteht ein falscher Eindruck in der Öffentlichkeit, wenn in letzter Zeit immer wieder die Varroamilbe als Hauptverantwortliche für das Bienensterben genannt wird. Auf diese Weise werden alle andern ebenso wichtigen Ursachen in den Hintergrund geschoben.
Ich gehe davon aus, dass Viren, Bazillen, Bakterien und wie diese Tierchen alle heissen zu allen Zeiten und überall vorhanden sind, beim Menschen, bei den Tieren und Pflanzen, also auch bei den Bienen. Sie haben ihr Lebensrecht und verursachen in einem ausgewogenen und gesunden Umfeld keine Störung. Ich bin der Überzeugung, dass nicht die Biene an sich krank ist, sondern dass wir Bienenzüchter und Honigproduzenten der Biene so viele Steine in den Weg gelegt haben, dass sie es nicht mehr schafft, aus eigener Kraft harmonisch und gesund zu leben. Unsere Hilfe soll nun aber nicht darin bestehen, dass wir unsere Fehlerkette weiterschmieden. Wir dürfen nicht mit unseren unzulänglichen (weil immer mit Nebenwirkungen verbundenen) Hilfsmassnahmen die Situation noch verschlimmern. Nein, wir sollen nur die Umstände ändern, unsere Steine aus dem Weg räumen und die Biene vermehrt in Ruhe lassen: Wir sollen von Honigproduzenten und Bienenzüchtern wieder zu Imkern werden!
Dies setzt in der Praxis eine alternative Grundeinstellung voraus: Die Biene ist nicht in erster Linie ein Insekt, das für den Menschen Honig zu produzieren hat. Dies ist zwar ein wertvoller Nebeneffekt, aber wir wissen heute, dass die Biene – zusammen mit anderen Insekten – die Nahrungsproduktion und damit nichts weniger als das Überleben der Menschheit sichert! Das tönt dramatisch. Es ist auch dramatisch, dennoch werden in der Praxis keine, nur minimale oder falsche Konsequenzen gezogen – Stichwort: Streptomycin. Warum wird ein sauerbrutbefallenes Volk abgeschwefelt? Weil wir eine Übertragung der Bakterien verhindern wollen. Die Absicht mag gut sein, aber was wissen wir schon von diesen Zusammenhängen? Oft ist es nur eine allgemeine Unsicherheit, die uns zu verschiedenen Massnahmen drängt. Mit dem Töten des Volkes nehmen wir ihm ja jede Chance, sich aus eigener Kraft zu erholen und im besten Fall immun zu werden! Natürlich sind die Bienenvölker unter den gegebenen, von uns verursachten Umständen im Moment nicht in der Lage, aus eigener Kraft zu überleben, aber es gibt Massnahmen, die ihnen wieder zu dieser Kraft verhelfen können – Massnahmen, die zeitaufwendiger und weniger «wirtschaftlich» sind als das Abtöten. Eine Möglichkeit wäre die totale Wabenbauerneuerung: Wir verschaffen dem Volk einen Neustart ohne Altlasten, wie es ihn auch natürlicherweise beim Schwärmen erhält. Ich denke, in der augenblicklichen Situation wäre das eines Versuchs wert.
Stress schwächt das Immunsystem. Trachtmangel und Trachtlücken führen bei der Biene zu Stress. Was schliessen wir daraus, wenn wir hören und lesen, dass der höchste Honigertrag in der Stadt Basel zu finden ist? Oder dass die Weltstadt Paris eine sehr hohe Imkerdichte aufweist? Die vielen Parks, Gärten, Friedhöfe, Alleen und unzähligen Balkone bieten den Bienen ein vielfältiges Trachtangebot, nicht zu vergleichen mit einer landwirtschaftlich genutzten Wiese. Mit der nötigen Einsicht gibt es viele Möglichkeiten, den Bienen wieder zu einer grösseren Trachtvielfalt mit möglichst wenig Trachtlücken zu verhelfen. Auch bei uns gibt es Gärten, die eine wunderbare «Augen- und Gaumenfreude» für unsere kleinen Freunde sind, aber dieses Angebot müsste noch gezielter ausgebaut werden. Aufklärung der Bevölkerung ist angesagt, damit nicht nur die Imker bienenfreundliche Blumen, Sträucher und Bäume pflanzen. Auch die öffentliche Hand soll ihren Boden gezielter in dieser Richtung pflegen. Ein praktisches Handbuch für diesen Zweck ist «Bienenweide: 200 Trachtpflanzen erkennen und bewerten» von Günter Pritsch (siehe Buchtipp im beiliegenden Original-PDF).
Seit etwas mehr als hundert Jahren erhält das Bienenvolk im Spätsommer Zuckerwasser als Ersatz für den Honig, den man ihm wegnimmt. Diesen Zucker muss die Biene mit viel Energie in für sie aufnahmefähiges Winterfutter umwandeln – mit Energie, welche ihr dann als eine der Grundlagen für eine gesunde Überwinterung fehlt. Trotzdem, und trotz Sauerbrutbakterien und andern Erkrankungen, ist die Biene über lange Zeit mehr oder weniger gut über die Runden gekommen. Das ist heute nicht mehr möglich, weil durch die Kumulation verschiedenster Stressfaktoren die Grenzen der Lebenskraft erreicht worden sind.
Neben den bekannten Erkrankungen hat die drastische Reduktion der Artenvielfalt die Bienen geschwächt: Fünfzig statt hundert Blumenarten in der Wiese* sind ein spürbarer Unterschied. Hinzu kommen das Ausbringen von Pestiziden, Fungiziden und Herbiziden in einem ganz gefährlichen Ausmass (Alternativen wie etwa Hanf werden aus Rücksicht auf die Agrochemie nicht ernsthaft erforscht), das gewaltige Ausmass an immer mehr Mobilfunk- und anderen Antennenstrahlungen (wie bei den Vögeln ist es bewiesen, dass diese einen Einfluss auf das Verhalten von Insekten haben), die superschnellen Mähmaschinen und das künstliche Züchten von Königinnen, welches die Inzucht fördert.
Bezüglich der Varroamilbe ist unbestritten, dass unsere europäische Honigbiene sie nicht als natürlichen Feind erkennt und somit zu deren Bekämpfung Behandlungen durchgeführt werden müssen. Diese Medikamente aber sind mit ihren Nebenwirkungen ein zusätzlicher Stressfaktor, vor allem für die Bienenkönigin.
All diese Ursachen werden nicht tatkräftig genug angegangen, weil einerseits die Einsicht fehlt und andererseits verschiedene Interessengruppen dies nicht zulassen. Eine Möglichkeit, die Situation zu verbessern, liegt in den Händen der Imker selbst und sie kann sofort in die Tat umgesetzt werden: Überlassen wir den Bienenvölkern etwas mehr Honig!
Weil so weniger Honig produziert wird, muss auch seine Verwendung in der Nahrungsmittel- und Kosmetikindustrie gründlich überdacht werden. Hier sind die Konsumentinnen und Konsumenten zum kritischen Einkaufen der entsprechenden Produkte aufgerufen. Der Bienenhonig ist in erster Linie ein wertvolles Nahrungsergänzungs- und Heilmittel und soll unverarbeitet genossen werden, wenn er seinen ganzen Wert behalten soll.